Türkei im November 1998
Ein Artikel von Jutta Hermanns, Istanbul
Mitarbeiterin des Büros "Rechtliche Hilfe für von staatlichen Kräften vergewaltigte und auf andere Art sexuell gefolterte Frauen".
Boykottaufrufe gegen Italien - Rache an kurdischer Bevölkerung in der Türkei Türkei bewegt sich im altbekannten Muster
Am 12. November 1998 gegen Abend reiste Abdullah Öcalan nach Italien ein und seit diesem Tag wird unter Beteiligung der Regierungen verschiedenster Länder, unterschiedlichster Organisationen und Personen die Frage diskutiert - was nun?
Unabhängig davon, wie auf internationaler rechtlicher wie politischer Ebene über den zukünftigen Status des Vorsitzenden der PKK entschieden werden wird, diese Entscheidung wird mit Sicherheit auch entscheidend den weiteren Verlauf des "kurdischen Konflikts" mitbestimmen.
Der folgende Artikel beabsichtigt, ein wenig die seit diesem Tag in der Türkei stattfindenden Entwicklungen und die sie begleitende pogromartige Hysterie darzustellen, die ein entscheidendes Licht auf die zu erwartenden Probleme bei dem Versuch einer "politischen Lösung der kurdischen Frage" werfen.
Am 26.11.1998 ist die 55. Regierung der Türkischen Republik unter Mesut Yilmaz durch ein Mißtrauensvotum im Parlament zu Fall gekommen. Und es ist davon auszugehen, daß auch eine 56. Regierung sich nicht lange halten wird. Solange die totale Verleugnung der durch angesehene Organisationen immer wieder belegten ungeheuren Dimension von Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des internationalen Völkerrechts durch die Türkei anhält und ohne die restlose Aufklärung und Ahndung derselben, ist mit einer "politischen Lösung der kurdischen Frage" und einer Demokratisierung des Apparates und seiner gesetzlichen Grundlagen nicht zu rechnen.
Unabhängig von eventuellen Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949 und ihrer Zusatzprotokolle von 1977, welche im übrigen im Gegensatz zur PKK (Januar 1995) von der Türkei nicht ratifiziert wurden, oder anderer völkerrechtlicher Prinzipien durch die PKK - wer heute eine Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert und dies einseitig unter Ignorierung der Tatsache tut, daß die absolute Hauptlast dieser Art von Verbrechen, begangen durch staatliche Kräfte oder dem Staat zuzurechnenden Kräften wie Dorfschützern etc., die kurdische Bevölkerung und die zivile Opposition zu tragen hat, unternimmt keineswegs einen Schritt in Richtung "gerechten und würdevollen Frieden".
So ist es denn auch berechtigterweise die größte Furcht der Türkei, daß der Versuch einer Aufklärung begangener Vebrechen auf internationaler Ebene dazu führen könnte, daß der Staat selber plötzlich zum Hauptangeklagten werden könnte (so Justizminister Hasan Denizkurdu unter Bezugnahme auf den Berliner Prozeß gegen den armenischen Attentäter Talat Pascha, in dem letztendlich über den an den Armeniern begangenen Völkermord geurteilt wurde, Radikal vom 28.11.1998).
Sämtliche Beispiele der Geschichte lehren jedoch, daß die Aufklärung staatlicher Verbrechen unerläßliche Voraussetzung zur Einleitung eines gerechten Friedensprozesses ist.
Die offizielle Staatspropaganda lautet nach wie vor:
a. In der Türkei existiere kein "kurdisches Problem" oder selbst "Menschenrechtsproblem" sondern lediglich ein "Terrorismusproblem";
b. Aufgrund des notwendigen Kampfes gegen den "Terrorismus" könne es vereinzelt zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sein, von einer Systematik derselben zu sprechen sei jedoch pure Verleumdung;
c. Solange das "Terrorismusproblem" nicht "ausgelöscht" sei, könne es zu keiner Verbesserung der Menschenrechtssituation kommen (so der Staatspräsident Demirel während seines Besuches in Östereich vor einer Woche und der Minister für Menschenrechte, Hikmet Türk, am 20.11.1998 auf einer von der Istanbuler Rechtsanwaltskammer und Amnesty International organisierten Menschenrechtskonferenz).
Das nationale Gedächtnis beginnt also zum einen erst 1984 und funktioniert zum anderen auch ab diesem Zeitpunkt nur selektiv. Diese Logik führt dazu, daß alle Personen, die sich außerhalb der offiziellen Staatspropaganda äußern und bewegen, zu Staatsfeinden und "Vaterlandsverrätern" erklärt und als solche verfolgt werden. Menschen, die die Menschenrechts- und Konventionsverletzungen beim Namen nennen, werden für dieselben auch noch verantwortlich gemacht, indem sie staatlicherseits als Teil des "Terrorismusproblems" lanciert werden.
Die Medien hämmern diese Logik entsprechend aufbereitet der Öffentlichkeit solange ein, bis sie, wie im Moment, in einen Taumel nationaler Hysterie verfällt. Sodann wird erklärt, wie vor einer Woche in der Fernsehsendung "Siyaset Meidani" auf dem Kanal atv geschehen, die Masse sei leider für eine Demokratisierung und poltische Lösung der "kurdischen Frage" noch nicht reif. Diejenigen Medien, die von der vorgegebenen Linie abweichen, werden kurzerhand verboten, wie vor einem Monat erneut die Zeitung "Özgür Gündem", oder zumindest vorübergehend eingestellt, wie etliche Radio- und Fernsehsender, welche unliebsame Meinungsäußerungen ausstrahlen.
Beispiele:
Am 25. April 1998 wurde über eine im nachhinein erwiesenermaßen lancierte und falsche Meldung in der Zeitung "Hürriyet" behauptet, laut Aussagen des festgenommenen ehemaligen Kommandanten der PKK, Semdin Sakik, werde der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, auf Anweisung der PKK tätig.
Eine solche Aussage gab es jedoch nie und auch wenn es inoffiziell allen klar ist, daß diese Mitteilung nur aus staatlichen und höchstwahrscheinlich militärischen Kreisen stammen kann, gibt es bis heute keinerlei Bemühung um Aufklärung der ursprünglichen Quelle.
Am 12. Mai 1998 wurde sodann in der Zentrale des IHD in Ankara ein Attentat auf Akin Birdal verübt, das er nur wie durch ein Wunder überlebte. Zufall?
Die festgenommenen Personen, unter ihnen ein Offizier der Gendarmerie, rechnen sich den "Türkischen Rachebrigaden", TIT, zu. Sie schwören offen:
"Wir haben eine ganze Liste mit Namen staatsfeindlicher Personen und werden zu gegebener Zeit weitermachen."
Die TIT ist eine Organisation, die immer wieder Verbrechen gegen insbesondere kurdische Oppositionelle verübte und sich auch hierzu bekannte. Nach wie vor erfolgen in ihrem Namen Drohbriefe und -anrufe z.B. gegen MenschenrechtsaktivistInnen. Von der Organisation wird angenommen, daß sie innerhalb des staatlichen Apparates angesiedelt ist. Nach dem Attentat auf Akin Birdal konnten diese staatlichen Verbindungen nicht mehr völlig verheimlicht werden, eine wirkliche Aufklärung derselben ist selbstverständlich nicht zu erwarten.
In der gleichen wie in der folgenden Zeit wurde der Sitzprotest der Anghörigen der Verschwundenen, der seit über drei Jahren jeden Samstag in Istanbul/Galatasaray stattfindet, in den Medien ebenfalls als "von der PKK gesteuert" dargestellt. Seitdem waren die "Samstagsmütter" ständigen Angriffen ausgesetzt, bis dieser Protest seit dem 15.8.1998 mit Massenfestnahmen und vielen Verletzten durch Polizeikräfte regelmäßig aufgelöst wird. Zufall?
Ende September 1998 wurde in Adana durch eine Person der Versuch unternommen, ein Flugzeug der Inlandslinie in ein westliches Land umzuleiten, also zu entführen. Die Maschine wurde in Ankara gestürmt und der Entführer erschossen. Er wurde später der Öffentlichkeit als "Terrorist und Mörder der PKK" vorgestellt und nicht genug damit, seine Schwestern wurden kurzerhand zu Prostituierten gemacht, um auch ja die Niedertracht der gesamten kurdischen Familie und eigentlich sämtlicher Kurden zu belegen.
Der Staat jedoch habe durch diese gelungene Operation erneut seine Überlegenheit bewiesen. Die Nation war glücklich.
Zu dieser Zeit befand sich der stellvertretende Vorsitzende des IHD, Rechtsanwalt Osman Baydemir, in Erzurum zu Vermittlungsgesprächen zwischen hungerstreikenden Gefangenen und Anstaltsleitung. Von Journalisten der Zeitung "Hürriyet" bedrängt, äußerte er, er könne aufgrund mangelnder Informationen zu dem Vorfall nichts sagen, jedoch würden sie als MenschenrechtsaktivistInnen aus rechtlicher Sicht den Standpunkt vertreten, daß, wenn irgend möglich, Festnahmen ohne Tötung der festzunehmenden Person erfolgen müßten.
Doch diese Äußerung war nicht opportun, und als sei nur auf sie gewartet worden, nahmen die Medien sie zum Anlaß, eine erneute Hetzkampagne gegen den IHD einzuleiten.
Am 1.11.1998 erschien auf der Titelseite der Hürriyet neben einem Photo Osman Baydemirs der Aufmacher: "Schaut Euch diesen Bekloppten an ..."
In den folgenden Tagen wetteiferten die Medien darin, den IHD über die Person Osman Baydemirs als PKK-Einrichtung darzustellen. Übereinstimmender Tenor: "Diejenigen, die hier von Menschenrechten reden, haben sich erneut als Staatsfeinde entlarvt. Sie vertreten nur die "Menschenrechte von Terroristen" und sollten nicht "Menschenrechtsverein" sondern "Schlächterrechtsverein" heißen."
Der Boden ist erneut bereitet ... Keine Absicht?
Am 9.11.1998 erscheinen zeitgleich in den Zeitungen "Öncü" und "Asabi" Nachrichten über angebliche Verbindungen des IHD und der PKK: unter einem großen Photo Eren Keskins, Vorsitzende der Sektion Istanbul des IHD, der Text: "Die wöchentlichen Aktionen der Frauen, welche "Samstagsmütter" genannt werden, finden die Unterstützung mancher Personen, die Wert darauf legen, daß sie auf der Tagesordnung bleiben und werden mit dem Ziel fortgesetzt, durch gegen die Türkei gerichtete Beschimpfungen und Verleumdungen bekannt zu werden. Bei der letzten Aktion befand sich unter den "unsere Kinder sind verschwunden" brüllenden Frauen auch die in ihrer Aufmachung einem Photomodell in nichts nachstehende IHD-Vorsitzende Eren Keskin, die jedoch der Frage des Polizeipräsidenten Ercüment Yilmaz, was sie denn verloren habe, die Antwort schuldig blieb."
Und unter einem Photo, welches Eren Keskin und andere Vorstandsmitglieder des IHD zeigt, der Aufmacher: "Apos Unterstützung für den IHD".
Eren Keskin wird permanent bedroht und verfolgt. Keine Absicht?
Am 27.11.1998 erschien in der Presse (Tageszeitung radikal) ein Artikel, in dem es u. a. heißt: "... Das Polizeipräsidium teilte in einer mit "geheim" betitelten Anweisung mit, daß von der Führung der PKK an sämtliche Kader und Kreise der legalen Ebene der Befehl erfolgt sei, in Aktion zu treten. In dem Schreiben wurde betont, daß die HADEP und der Menschenrechtsverein IHD entsprechend dieses durch die Organisation erfolgten Befehls eine Reihe von Aktivitäten vorbereiten würden ..." Keine Absicht?
Dies sind nur einige wenige Beispiele aus der letzten Zeit, die sich endlos fortsetzen ließen. Durch diese Art der Propaganda laufen Menschenrechtsaktivist/innen und kurdische Politikerinnen und Politiker Gefahr, jederzeit Ziel von Angriffen und Attentaten zu werden. Drohanrufe und permanente Bedrohungen auf der Straße sind an der Tagesordnung. Das bedeutet, in dem ständigen Wissen darum zu leben und zu arbeiten, daß es sich nur um eine Frage der Zeit handelt, wann diese Saat aufgeht ...
Dies ist nun seit dem 12. November 1998 ins Unermeßliche gesteigert worden. ... Seit diesem Tag und seitdem sich immer klarer herauskristallisierte, daß es zu keiner Auslieferung Abdullah Öcalans kommen würde, wird durch Politiker und Medien versucht, die Emotionen der Bevölkerung in einer Art Dauerpropaganda aufzupeitschen. Permanent flackern Bilder getöteter Kinder und Frauen über den Bildschirm, werden weinende und schreiende Angehörige auf Begräbnissen gefallener Soldaten gezeigt, werden verwundete Soldaten und Mütter gefallener Soldaten interviewt, was sie tun würden, würde ihnen der "Mörder von über 30.000 Menschen" in die Hände fallen.
Stets aufbereitet mit entsprechend dramatischer Gestaltung und den nicht unerheblichen Hinweisen, daß es ja so etliche "Unterstützer/innen" (siehe oben) im Lande gebe ... Und die aufgepeitschten Emotionen entladen sich wie erwünscht ...
Im gesamten Land kommt es seitdem zu pogromartigen Ausschreitungen, meist angeführt von organisierten Zivilfaschisten und häufig mit Unterstützung der offiziellen Polizeikräfte ...
Während die kleinsten Protestregungen gegen die offizielle staatliche Politik immer zu verbotenen Demonstrationen und Kundgebungen erklärt werden, was regelmäßig zu brutalen Auflösungen, Verletzungen, anschließenden Festnahmen, Folter und Gerichtsverfahren führt, dürfen die aufgepeitschten Gruppen toben.
Dies ist sogar erwünscht und wird durch Aufrufe der Politiker unterstützt. Begleitet von Parolen und dem Aufzeigen der Zeichen der faschistischen Parteien, dem Verbrennen von Fahnen und Demolieren u. a. italienischer Einrichtungen, tätlichen Angriffen auf kurdische Menschen und Angriffen jeglicher Art (Molotow-Coktails, Steine, Stöcke etc.) auf kurdische Einrichtungen werden diese Aufmärsche als Ausdruck des nationalen Willens hochgejubelt und in den Medien gefeiert.
In den Stadtteilen ziehen Autokonvois hupend durch die Straßen und heizen die Stimmung zusätzlich an. In Lynchstimmung ziehen Gruppen z. T. in Größenordnungen von 1000 bis 1500 Menschen (Ümraniye und Osmaniye/ Istanbul) vor die Parteibüros der HADEP und andere kurdische Einrichtungen, versuchen in die Gebäude einzudringen und die dort anwesenden Menschen anzugreifen.
Auf das Parteibüro der HADEP in Mus wurde ein Brandanschlag verübt, das Parteibüro Malatya beschossen und das Parteibüro in Izmir am 29.11.1998 erneut mit Steinen und Stöcken angegriffen (Quelle: HADEP Ankara). Polizei ist in diesen Situationen entweder nicht vorhanden oder sie schaut zu.
Zugleich kommt es zu gewalttätigen Protesten gegen italienische, insbesondere diplomatische Einrichtungen. Fahnen werden verbrannt, italienische Waren, u. a. Lebensmittel, auf die Straßen und Plätze ausgeleert, zerstört und verbrannt, Läden haben Schilder mit der Aufschrift: "Wir verkaufen keine italienische Ware" in die Schaufenster gehängt, italienische Sender wie RAI werden an der Ausstrahlung gehindert und italienischer Sprachunterricht an Schulen z. T. vom Stundenplan gestrichen, die entsprechenden Lehrer entlassen (geschehen z. B. in einer Privatschule in Izmir). Politiker drohen den westlichen Verbündeten, sich nicht mit einer zu allem entschlossenen Türkei anzulegen (Mesut Yilmaz erneut am 28.11.1998, Quelle: Tageszeitung Radikal v. 29.11.1998).
Kleine italienische Läden haben aus Angst zumachen müssen. Bei den Massenkundgebungen vor italienischen Konsulaten, bei denen es auch zu Sachbeschädigungen kommt, sehen staatliche Kräfte, die sonst die kleinste Ansammlung sofort brutal auflösen, wenn sie denn von den falschen Menschen ausgeht, befriedigt zu. Auch diese Szenen werden im Fernsehen als Demonstrationen der nationalen Einheit belobigt.
Staatlicherseits werden die kleinsten Regungen von Protest, wie auch zuvor schon immer, verboten und kriminalisiert, so z. B. passive Hungerstreiks in den Büros der pro-kurdischen Partei HADEP, indem sie zu "Unterstützungsaktionen der PKK" erklärt werden.
Landesweit kommt es immer wieder zu überfallartigen Durchsuchungen von Parteibüros der HADEP und anderen, insbesondere kurdischen Einrichtungen durch die Polizei, bei denen bis heute Tausende Menschen festgenommen und anschließend Frauen, Kinder wie Männer z. T. schwer mißhandelt und gefoltert wurden.
Arbeitsunterlagen, Akten, Computer der Partei wurden beschlagnahmt. Vielleicht sei zur Information darauf hingewiesen, daß es sich bei der HADEP um eine legale politische Partei handelt.
Am 19.11.1998 wurden auf Anordnung des Staatssicherheitsgerichtes Ankara landesweit alle Parteibüros der HADEP durchsucht, z.T. kurz und klein geschlagen.
Wiederum am 19.11.1998 wurden landesweit Redaktionsräume der zur Zeit nicht publizieren könnenden Zeitung "Özgür Gündem" durch Polizei durchsucht (Istanbul, Ankara, Urfa, Malatya, Diyarbakir, Van, Batman, Izmir) und z. T. verwüstet, etliches Material beschlagnahmt und Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter festgenommen (Quelle: IHD Istanbul).
Die polizeilichen Operationen halten seitdem an.
Landesweit ist es bis jetzt zu über 3.000 Festnahmen allein in HADEP-Büros gekommen. Gegen 204 festgenommene Parteifunktionäre wurde anschließend Haftbefehl erlassen, unter ihnen: 6 Vorstandsmitglieder der Parteizentrale Ankara, u. a. der Vorsitzende der HADEP, Murat Bozlak, der stellvertretende Parteivorsitzende, Bahattin Günel und der Parteisekretär, Ahmet Turan Demir, 7 Pateivorsitzende und 23 Vorstandsmitglieder verschiedener Provinzen, 16 Vorstandsmitglieder verschiedener Landkreise sowie 10 Vorstandsmitglieder der Jugendkommissionen der Partei (Quelle: HADEP Ankara).
In Diyarbakir kam es bis jetzt zu über 1.100 Festnahmen, davon über 700 Menschen während der gegen die HADEP gerichteten Operationen. Gegen 53 HADEP-Funktionäre und Mitglieder wurden anschließend Haftbefehle erlassen (Quelle: ehemaliges Vorstandsmitglied der geschlossenen IHD-Sektion, Diyarbakir).
In diesen Zahlen sind nicht diejenigen Festnahmen enthalten, die auf Straßen, Plätzen und in anderen Einrichtungen stattfanden. Es ist ungeheuer schwierig, genaue Informationen zu erhalten, da kaum noch intakte Strukturen bestehen, die kontinuierlich Informationen zusammenstellen und weiterleiten können. Manche der Festgenommen werden kurz nach einer Freilassung erneut festgenommen, etliche Orte wurden bereits mehrmals Ziel polizeilicher Operationen.
Beim Abführen der Menschen sind plötzlich nicht genug Polizeikräfte vorhanden, um diese vor der draußen wartenden Menge zu schützen - einer Polizei, die sich sonst nicht zu schade ist, Hunderte schwer aufgerüsteter und bewaffneter Beamte gegen 30 Samstagsmütter einzusetzen - so daß es zu etlichen Schwerverletzten durch versuchte Lynchjustiz kam. Im Fernsehen wurden diese Szenen aus allen Teilen der Türkei nicht ohne eine gewisse Art von Stolz und Befriedigung damit kommentiert, daß "das Volk seine nationale Einheit gegenüber Gruppen von PKK-Sympathisanten demonstriert" hätte.
Bis jetzt sind zwei Menschen durch polizeiliche Übergriffe getötet worden. Ein Mensch wurde in der Zentrale der HADEP in Diyarbakir vor den Augen vieler Menschen zu Tode geprügelt, ein anderer nach Festnahme im Gebäude der HADEP in Izmit durch die Polizei zu Tode gefoltert. Kurden und Kurdinnen stehen z. Zt. im Bewußtsein auf, daß sie den heutigen Tag eventuell nicht überleben werden ...
Die Stimmung ist schwer zu beschreiben. Aber es ist mir ein Anliegen und ich möchte versuchen, sie anhand von ein paar Beispielen zumindest ansatzweise nachvollziehbar zu machen.
(Von insgesamt 4 Beispielen wurden für den Rundbrief aus Platzgründen zwei herausgesucht. Die Rundbrief-Redaktion)
1. Hamid Çakir, 18 Jahre, Bauarbeiter in Diyarbakir ...
(Zusammenfassung eines Interviews mit einem Cousin 1):
Am Mittwoch den 18.11.1998 begab sich Hamid zum Parteibüro der HADEP in Diyarbakir, um den dort aus Protest hungerstreikenden Menschen einen Besuch abzustatten, als plötzlich Polizei die Türen aufbrach und in die Räumlichkeiten eindrang. Sie schlugen mit Knüppeln und Fäusten auf die dort Anwesenden ein, traten sie mit Füßen. Im Gebäude befanden sich zu dieser Zeit ca. 90 Personen, die anschließend alle festgenommen wurden, etliche von ihnen in verletztem Zustand. Vor den Augen aller wurde Hamid durch Schläge und Tritte insbesondere am Kopf schwerstens verletzt. Er starb innerhalb einer halben Stunde noch vor Ort.
Die Polizei verhinderte jeden Versuch, ärztliche Hilfe anzuforden. Der Leichnam Hamids wurde durch die Polizei sogleich in die Leichenhalle des staatlichen Krankenhauses gebracht.
Die offizielle Version der Todesursache lautet "Herzinfarkt". Eine unabhängige Autopsie wurde verhindert und der Leichnam nicht an die Angehörigen herausgegeben. Im Beisein von lediglich vier Angehörigen, die die Polizei benachrichtigt hatte, wurde er sofort durch staatliche Kräfte begraben. Ein Bruder, dem es gelang, einen Blick in den Sarg zu werfen, sagte aus, dieser sei voller Blut gewesen. Photos oder Filmaufnahmen waren nicht gestattet.
Die Situation in Diyarbakir ist extrem angespannt, überall haben sich gepanzerte Fahrzeuge, Militär und Polizei stationiert. Nun wollen die Anwälte der Angehörigen eine erneute, echte Autopsie durchsetzen und Anzeige gegen die beteiligten Staatskräfte erstatten. Die Presse schweigt.
2. Augenzeugenbericht über die Lynchversuche einer aufgebrachten Menge an kurdischen Menschen, Hand in Hand mit der Polizei am 17.11.1998, Istanbul/Beyoglu.
(Interview mit dem Augenzeugen und Betroffenen Selahattin Bulut, Inhaber des Buchladens "Medya", Beyoglu - Galatasaray)
"Gegen 12 Uhr befand ich mich auf dem Weg von einem Verlag zu meinem Buchladen, der sich am Platz Galatasaray, an dem wöchentlich der Sitzprotest der Samstagsmütter stattfindet, in einer Einkaufspassage im zweiten Stock befindet. Daher konnte ich alles gut beobachten.
Eine Gruppe Kurden machte einen Sitzprotest in der Kirche St. Antonio. Eine andere - ca. 60 bis 70 Menschen - kam Parolen rufend aus Richtung Tunnel in Richtung Galatasaray. Es fiel mir auf, daß sich dort keinerlei Polizei und Taxis befanden, obwohl am Platz Galatasaray sonst immer - auch wenn kein besonderer Tag ist - Polizei postiert ist. Die Gruppe wollte sich dort gerade auflösen, als aus der auf der Straße befindlichen Menge heraus ein auffällig großer Mann "Es lebe Atatürk, es lebe die Türkei" skandierte. Wie auf ein Zeichen stürzten sich Unmengen von Leuten auf die kleine Gruppe und begannen alle, die sie in die Hände bekamen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig geschlagen und lagen verletzt auf der Straße - erst dann kam auf einmal Polizei.
Doch statt die Angreifer festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden fest und führten sie zu Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten schon in den Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den Polizeifahrzeugen schlug auch die Polizei auf die Festgenommenen ein. Ich habe dann meinen Laden zugemacht und bin ins Erdgeschoß gegangen. Doch das Gitter am Eingang der Passage war verschlossen. Zivile Polizei ließ das Gitter aufmachen und stürmte in die Passage. Sie riefen: "Wo sind die Verräter, haben sich welche von den Verrätern hierher geflüchtet?" In sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes begannen Personalkontrollen. Ich konnte beobachten, daß sie Menschen unter Schlägen abführten, die nichts mit der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis ein kurdischer ist.
Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen. Die Polizei sah in ihre Ausweise, aus denen sich über den Geburtsort ergab, daß sie Kurden sind. Sie führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen von außen an die Gitter des Passageneinganges. So überließen sie sie der weiter tobenden Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen wie: "Die Türkei ist groß, es lebe Atatürk", zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und baten die Polizei, sie zu den Polzeibussen zu bringen.
Doch die Polizei wartete und führte sie erst nach einer Weile ab. Da ich wegen meines Ausweises Angst hatte, begab ich mich ein Stockwerk tiefer. Dort wurde ich von 4 - 5 zivilen Polizeibeamten umzingelt. Sie schlugen mich eine Weile und erst dann haben sie nach meinem Ausweis gefragt. Als ob sie mich bei einer schweren Straftat erwischt hätten, schubsten und stießen sie mich in den Keller. Dort wurde ich geschlagen und getreten, beleidigt und beschimpft.
"Wer bist du, was hast du hier zu suchen", fragten sie. Ich sagte, ich hätte hier einen Buchladen. Sie sagten:" Alle Händler hier helfen uns, die Verräter aufzuspüren und du schließt deinen Laden und gehst. Warum?" Ich antwortete, ich hätte Angst wegen meines Ausweises gehabt. "Wieso?" - "Weil mein Geburtsort Mardin ist." - "Ja und, was ist mit Mardin?" - "Mit Mardin ist nichts, aber ihr nehmt die Menschen fest und führt sie ab, allein deswegen, das habe ich gesehen."
Einen Moment stutzten sie. Danach führten sie mich zu meinem Laden. Als wir hinein sind, entdeckten sie ein Lehrbuch der kurdischen Sprache, nahmen es vom Tisch und warfen es mir an den Kopf. "Du hast uns gesagt, du seist Buchhändler. Sieh dir das an, was für schändliche Bücher sind das, die du verkaufst." Sie begannen wieder, mich zu beschimpfen und zu beleidigen. In meiner Tasche fanden sie den Text eines Interviews, das der Verlag "Helwest" in Schweden mit mir gemacht hatte. "Wir brauchen dich gar nichts mehr fragen, es ist sowieso klar, wo du stehst", sagten sie. Ich fragte sie, was dieser Text mit den Vorfällen draußen zu tun hätte. Wenn er einen strafbaren Inhalt hätte, sollten sie es der Staatsanwaltschaft melden und ein Verfahren einleiten. Wieder stutzten sie etwas. Sie schlossen den Laden und schleiften mich hinter sich her ins Erdgeschoß. Ich war der einzige Kurde, den sie an diesem Tag hier haben laufen lassen. Die dortigen türkischen Händler grüßten die Polizisten und luden sie auf einen Tee ein."
Es ist jedoch festzustellen, daß es keineswegs die gesamte Bevölkerung ist, die sich auf diese Art und Weise artikuliert, sondern daß insbesondere die organisierte extreme Rechte sowie staatliche Kräfte versuchen, die verschiedenen Bevölkerungsteile gegeneinander aufzuhetzen. Der Großteil der Bevölkerung, türkischer wie kurdischer, hat keinen sehnlicheren Wunsch, als daß es zu einem Friedens- und Demokratisierungsprozeß im Lande kommt. Fakt ist, daß alle Kräfte, die ernsthaft an einer politischen Lösung der "kurdischen Frage" und an einem grundlegenden Friedens- und Demokratisierungsprozeß interessiert sind, Angst davor haben, sich zu äußern oder entsprechende, dringend notwendige Schritte zu unternehmen, da sie fürchten müssen, sofort Ziel von Angriffen und Repression zu werden.
Es ist daher dringend erforderlich, daß diese Kräfte, auch aus dem Ausland, anerkannt, unterstützt und gestärkt werden. Denn ohne sie ist eine entscheidende Veränderung der diesem Konflikt zugrundeliegenden Struktur nicht denkbar.
1 Person der Verfasserin bekannt, Name wird aus Sicherheitsgründen nicht genannt.