Es ist Herbst
(Türkische Fassung veröffentlicht in: Hepsi Gercek - Devlet kaynakli cinsel siddet, Punto Verlag, Dezember 06)
Es ist Herbst 2006.
Ein Buch soll erscheinen. Ich wurde gebeten, etwas dazu beizutragen.
Vor 10 Jahren begannen wir, das Projekt „Gözaltinda cinsel iskenceye karsi kadin hukuk bürosu“ als Idee zu besprechen und vorzubereiten.
Wir waren 10 Jahre jünger als heute.
Wir hatten 10 Jahre weniger Erfahrung als heute.
Die Türkei hatte noch 10 Jahre weiterer politischer Verbrechen und Heuchelei erst vor sich.
Ich war Anwältin und kam aus der Bundesrepublik Deutschland.
Einem Land mit einer nie zu vergessenden Vergangenheit und Verantwortung:
dem deutschen Faschismus.
Einem System und Geist, welcher die Ideologie der Überlegenheit einer Rasse über andere, der Überlegenheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Individuen über andere
bis dahin in der Geschichte der Menschheit am extremsten in Politik und Praxis umgesetzt hatte und
ein ganzes Volk, das der Juden, auszulöschen trachtete und
Millionen von Menschen vernichtete, tötete, folterte, verstümmelte und
Millionen anderer Menschen als deren Angehörige gebrochen, zerstört und gedemütigt zurückließ. Über Generationen.
Und nur, weil diese Menschen anders waren als die Machthaber und
als die schweigende, elendig feige Mehrheit das festgelegt hatten:
Weil sie Juden waren,
weil sie einer anderen Ethnie oder Religion oder Rasse angehörten,
weil sie krank oder behindert oder weil sie homosexuell waren,
weil sie einer anderen politischen Ideologie angehörten oder
weil sie anderer Meinung waren und widersprachen und/ oder Widerstand leisteten.
Ich wuchs auf in einer Zeit der Abrechnung:
meine Generation fragte ihre Eltern, die vorherigen Generationen, unsere Lehrer/innen und alle Älteren gnadenlos nach Ihrer Verantwortung:
Wo wart Ihr, was habt Ihr getan, wie konntet Ihr schweigen und wegsehen?
Wie konnte das passieren?
Wir bekamen keine Antwort.
Und wir haben mit unseren Eltern gebrochen und sie allein und schweigend stehen lassen. Und unseren LehrerInnen und ProfessorInen und allen anderen „Autoritäten“ haben wir die Achtung verweigert, denn sie schwiegen immer noch und sagten:
wir wussten doch nicht….wir wussten von nichts…
Und sie waren immer noch zu feige, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und die Verantwortung für sich und die Geschichte, die deutsche Geschichte, zu übernehmen.
Und so wurde für uns zum Leitmotiv unseres Lebens:
Überall dort, wo Menschenrecht gebrochen wird, wird Widerstand zur Pflicht.
Vor 10 Jahren planten Eren und andere Frauen und ich (als einziger „Ausländerin“) dieses Projekt. 2 Jahre zuvor war ein geliebter Freund gestorben:
Ein Oppositioneller und ein Kurde, kurz nach dem Putsch 1980 in der Türkei festgenommen und in den Kerkern der Folterer und Henker verschwunden. Er war gerade 18 Jahre alt. Gefoltert auf jede nur erdenkliche Weise, damals noch 3 Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt, immer wieder auch vergewaltigt, und dann für 10 Jahre im Knast verschwunden.
Widerständig hat er überlebt;
aber nur 3 – 4 Jahre nach seiner Entlassung aus den türkischen Kerkern setzte ein trivialer Fahrradunfall in Deutschland seinem starken Widerstandsgeist, seinem widerständigen Leben ein Ende.
Das Leben fragt nicht und der Tod auch nicht, ob man bereit sei…
Zehntausende wie er, Männer und Frauen:
gefoltert, vergewaltigt, verschleppt, verschwunden, getötet,
warten noch heute in der Türkei darauf, dass das an ihnen begangene Unrecht,
politische Verbrechen, endlich eingestanden und verfolgt werden.
Tausende Hinterbliebene und Angehörige leben bis heute, ohne zu wissen, was ihren Liebsten angetan wurde.
Tausende Frauen,
gefoltert und vergewaltigt, weil sie für die Freiheit und Unabhängigkeit Ihres Volkes eintreten, diese anmahnen, hierfür kämpfen;
Tausende Frauen, die für einen freiheitlichen Geist und ein freiheitliches Regime in der Türkei eintreten, leben bis heute mit den an ihnen begangenen politischen Verbrechen,
ohne Rehabilitation erfahren zu haben,
ohne dass die Verantwortlichen und Täter zur Rechenschaft gezogen wurden,
ohne dass sich das politische System der Türkei seiner Vergangenheit stellt,
die Verantwortung übernimmt und
ohne dass sich der zerstörerische Geist geändert hätte.
Das ist die Türkei. Heute.
Ein Land, in dem noch heute selbst die so genannte Linke aufschreit, wenn man vom kurdischen Volk und seinen legitimen Rechten oder dem Völkermord an den Armeniern spricht.
Ein Land, in welchem ernsthaft „Gutachten“ eingeholt werden, um RechtsanwältInnen und ÄrztInnen zu beschuldigen, dass sie die eigentlichen Terroristen sind, indem sie ihre Mandantinnen und Patientinnen dazu anstiften, zu behaupten, sie seien vergewaltigt und gefoltert worden.
Von Folter und Vergewaltigung zu sprechen, Bestrafung der Täter zu fordern, gilt in den Augen des türkischen Staates immer noch als „Fortsetzung des Kampfes gegen die Türkei mit anderen Mitteln“.
Und meine Anwesenheit und Mitarbeit damals wurde aufgefasst,
als „imperialistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei“.
Denn ich kam ja aus Deutschland, es konnte also gar nicht anders sein, als dass ich imperialistische Agentin bin, nicht wahr?!
Aber:
Egal wo auf der Welt Menschen- und Freiheitsrechte mit Füßen getreten werden, macht sich mitschuldig, wer schweigt. Menschen- und Freiheitsrechte kennen keine Grenzen.
Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Lehren aus dem deutschen Faschismus.
Unsere Arbeit in dem Projekt wird immer noch als
„Herabsetzung des Ansehens der Türkei im Ausland“ eingestuft.
Dafür wird meine Kollegin Eren Keskin heute noch verfolgt.
Und die mutigen Frauen, welche nicht mehr schweigen und endlich laut die Strafverfolgung der Täter der an ihnen begangenen Verbrechen fordern, auch.
Nicht nur durch den Staat und seine Kräfte, deren repressiver Geist sich nicht geändert hat.
Auch durch die Gesellschaft selber, die ächtet sie nach wie vor.
In der Türkei genauso wie in der Bundesrepublik Deutschland.
Hier, in der Bundesrepublik Deutschland, gibt es eine Menge zu tun, das ist richtig. Und sicherlich wären wir unglaubwürdig, würden wir uns nicht auch hier gegen den heuchlerischen Charakter der hiesigen Politik einsetzen:
Für die Rechte politischer Flüchtlinge genauso, wie für die Rechte der MigrantInnen,
nur als ein Beispiel.
Denn die Politik und auch die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland sind noch lange nicht frei von den Spuren von damals…abgesehen davon, dass die Politik kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten folgt.
Aber der türkische Nationalismus, den wir z.B. hier in der Bundesrepublik Deutschland in der türkischen MigrantInnengesellschaft erleben, übertrifft doch so einiges.
Und ich kann nicht anders, als zu vergleichen:
Wenn hier z.B. die Türkische Gemeinde vehement und massiv muttersprachlichen, heißt, türkischen Unterricht fordert oder aufschreit, wenn auf Schulhöfen Deutsch gesprochen werden soll, so muß ich, unabhängig von Solidarität gegen Rassismus, auch denken:
Und was ist denn mit Kurdisch in Eurem eigenen Land…?!
Warum fordert Ihr soviel, was Ihr nicht ansatzweise anderen Menschen in der Türkei gewährt?
Warum setzt Ihr Euch nicht mit der gleichen Vehemenz für die Rechte anderer Völker und Minderheiten in Eurem eigenen Land ein? Sondern im Gegenteil sogar…?
Und immer und überall türkische Fahnen…
Und um gleich dem beliebten PKK-Einwand zu begegnen:
Und wenn es hunderte PKKs gäbe,
Menschrechtsverbrechen, wie sie (auch) in der Türkei begangen (wurden) werden,
sind nie und zu keiner Zeit und unter keinen Umständen zu rechtfertigen.
Dieser übertriebene türkische Nationalismus in weiten Teilen der Gesellschaft ist unerträglich und hat sehr viel mit unaufgearbeiteter Geschichte zu tun.
Und es wird die Generation geben, die irgendwann die gleichen Fragen stellen wird,
wie wir unserer Elterngeneration:
Wo wart Ihr? Was habt Ihr getan? Warum habt Ihr geschwiegen? Wie konnte das passieren?
Das ist sicher, diesen Verlauf einer gesellschaftlichen Entwicklung kann niemand verhindern.
Der repressive, zerstörerische Geist eines politischen Regimes kann sich nur von Grund auf ändern, wenn zuvor die Vergangenheit und insbesondere die politischen Verbrechen der Vergangenheit schonungslos, ehrlich und offen aufgearbeitet und eingestanden werden.
Deutschland ist vielleicht ein extremes und auch schlechtes Beispiel, da es eine wirkliche und wahrhafte Aufarbeitung nie gegeben hat. Eine solche müsste nämlich Antworten finden auf die Frage:
wie kann es dazu kommen, dass eine ganze Gesellschaft schweigt, wenn im Namen einer Ideologie, eines totalitären Regimes, einer Partei, des Militärs, bestimmter herrschender Interessen Verbrechen an anderen Menschen begangen werden?
Aber auch die Länder in Lateinamerika sind ein Beispiel dafür,
dass eine wirkliche Demokratisierung, eine wahrhaft freiheitliche Umwälzung des Geistes eines politischen Regimes und Achtung vor den Menschen- und Freiheitsrechten anderer ohne Aufarbeitung und ehrliches Eingeständnis der bisherigen politischen Verbrechen nicht möglich ist.
Das gilt übrigens auch für politische Parteien, Organisationen und Individuen!!
Gerade wenn sie sich selber revolutionär nennen. Besonders aber für politische Regime.
Dafür bedarf es angstfreier Charaktere und starker gesellschaftlicher Gruppen,
dafür bedarf es starker und aufrechter Frauen, die dies einfordern und durchsetzen.
Frauen wie die, die sich an unser Projekt gewandt und ihr Schweigen gebrochen haben.
Ihrer bedarf es viel mehr.
Ihnen gehört meine Hochachtung.
Denn Schweigen brechen ist immer der erste Schritt für Veränderung…
Noch ist Herbst…
Die Geschichte der Menschheit ist jedoch wie die Jahreszeiten.
September 2006
Jutta Hermanns, Rechtsanwältin