Sexualisierte Gewalt als Mittel politischer Repression —

die Thematisierung eines Tabus, ein Schritt auf dem Weg zu einer friedlicheren Gesellschaft

 

Redebeitrag, Kongress Kultur des Friedens 2003

Von Jutta Hermanns

 

Vorbemerkungen:

Innerhalb der ungeheuer komplexen weltweiten Beziehungen zwischen

 

a ) Staaten untereinander — Nationen und Minderheiten ohne eigene
Staatsgebilde — Abhängigkeit und ungleicher Entwicklung/ Machtverteilung — unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen sowie

 
b) Staatlicher Macht und Individuum — Individuum und Gesellschaft —
Individuen und ihren Interessenverbänden

 
ist es nicht möglich, einfache und verallgemeinerungsfähige Aussagen

zu treffen, Erklärungsmuster zu entwerfen und Analysen zu erstellen.

Die Konzentration auf einen Ausschnitt bleibt daher immer

unvollständig.

 

—        Menschen neigen dazu, einfache Antworten auf komplexe

Sachverhalte zu suchen, um ihre eigenen Positionen und sich daraus

ergebende Handlungsformen möglichst in Schwarz-Weißmuster

einordnen und sich so die Welt leichter erklären zu können.

—        Staatliche Machtpolitik und die dahinter stehende Motivation

bewegt sich häufig konträr zu den Interessen von als »anders«

deklarierten

Ethnien und Nationen, gesellschaftlicher Gruppen und Individuen.

Die Konfliktlinien sind vielschichtig und vielfältig und häufig nicht

klar zu erkennen.

—        Um der komplexen Realität und Interessenlage gesellschaftlicher

Gruppen und Individuen nicht gerecht werden zu müssen, neigen die

politisch bestimmenden Kreise, die nicht immer auch die sichtbaren

politischen Kräfte sein müssen, dazu, durch ein offenes oder auf den

ersten Blick nicht unbedingt erkennbares abgestuftes System von

Repression tatsächliche oder vermeintliche Opposition entweder voll-

ständig zu liquidieren oder zumindest auf eine Position der Bedeu-

tungslosigkeit zu minimieren

Die Stärkung klassischer individueller Freiheitsrechte setzt existenzi-

elle Basisversorgung (Ernährung, Gesundheit, Bildung) voraus. Tägli-

cher Existenzkampf um das pure Überleben lässt bewusstes und ziel-

gerichtetes Handeln zur Durchsetzung individueller und kollektiver

Freiheitsrechte kaum zu. Die Herausbildung einer starken, sich seiner

unveräußerlichen Rechte bewussten und von Autoritätsgläubigkeit

befreiten Persönlichkeit, welche zugleich voller Achtung vor der

unveräußerlichen Würde aller anderen Menschen und Gruppen neben

sich auch zu kollektivem Handeln fähig ist, liegt nicht im Interesse

staatlicher Führungseliten.

Staaten greifen zur Herstellung eines in ihrem Interesse liegenden

Zustands oder zur Sicherung des Status Quo zu Methoden, die gesamt-

gesellschaftlich durchdringend und wirksam sind (sein sollen).

In Bezug auf Frauen heißt das immer auch : Angriff auf ihre sexuelle

Integrität und Würde. In Bezug auf Nationen ohne eigenen Staat,

Ethnien und Minderheiten heißt das immer auch: Verleugnung und

Assimilierung bis hin zu Vernichtung. Um die Systematik und die

dahinter stehende Motivation zu verstehen, zunächst das jeweilige

staatliche Selbstverständnis und die daraus resultierende Interessen-

lage verstanden werden.

 

Zum Thema:

 

1. Unveräußerliche Menschenrechte stehen zu keiner Zeit und unter

keinen

Umständen zur Disposition. Weder Staaten noch Gruppen noch Einzel-

nen steht es frei, eine Abwägung dieser Rechte mit ihrer Meinung nach

»höher stehenden Rechtsgütern« einzuleiten. Dieses Prinzip hat sich im

Laufe der schmerzvollen Geschichte der Menschheit im Völkerrecht

durchgesetzt. Hierzu gehört auch das Verbot der Folter. Etliche Staaten

weltweit haben sich durch die Ratifizierung entsprechender Abkommen

gebunden. Durch diese Selbstbindung haben sie völkerrechtlich

gesehen

ihre ebenfalls völkerrechtlich garantierte staatliche Souveränität partiell

aufgegeben bzw. in eine bestimmte Richtung festgelegt.

 

2. In vielen Staaten besteht eine extreme Diskrepanz zwischen ihrer

Selbstbindung und ihrer staatlichen Praxis. Staaten wie z.B. die Türkei

haben Konventionen, die u.a. die Folter verbieten, ratifiziert und das

Folterverbot selbst innerstaatlich durch Strafrechtsvorschriften sanktio-

niert. Dies lässt jedoch keine Aussage über die tatsächliche Praxis zu,

welche von systematischer Folter geprägt ist. Staaten, denen ihr

Ansehen bei der Völkergemeinschaft etwas bedeutet, versuchen diese

Realität

zu verheimlichen und zu vertuschen. Um dieses Ziel erreichen zu

können, kommen immer perfidere Foltermethoden zur Anwendung, die

keine

oder nur schwer nachweisbare Spuren hinterlassen. Hierdurch wird

eine

Verfolgung und Verurteilung derartiger Staatenpraxis auch vor interna-

tionalen Menschenrechtsmechanismen häufig verunmöglicht. Auf

Vorwürfe Betroffener oder durch Menschenrechtsaktivisten sind übli-

cherweise zwei Reaktionen zu beobachten:

 

a)         Der Foltervorwurf sei aus der Luft gegriffen und werde von

Staatsfeinden hervorgebracht, die hiermit das internationale Ansehen

des

betreffenden Staates in Misskredit bringen wollten. Auf diese Weise

werden auch Menschenrechtsaktivistlnnen und Betroffene zu »Staats-

feinden« erklärt.

b)         Es handele sich um Exzesse einzelner Beamter, also um

Einzelfälle, die

jedoch im Rahmen »legitimer Terrorismusbekämpfung« unvermeidbar

und gerechtfertigt seien (Abwägung mit einem »höheren Gut«).

Beide Varianten als Reaktion auf Foltervorwürfe sind in der Türkei anzu-

treffen. Insbesondere Variante b.) ist auch in Ländern wie Deutschland

zumindest als Gedankenspiel wieder möglich geworden. In anderen

westlichen Ländern, die sich gerne als Retter von Demokratie und

Freiheit

aufspielen, wird Variante b.) sogar praktiziert (z. B. Amerika und Israel).

 

3.         Frauen sind weltweit zusätzlich zu den jeweils angewandten

Folter und Repressionsmethoden des jeweiligen Landes mit brutalen

Übergriffen auf ihre sexuelle Integrität konfrontiert. Auszumachen sind

folgende Situationen:

—        Als tatsächliche oder vermeintliche Regimegegnerin;

—        Als Objekt, um Informationen über männliche

Familienangehörige zu

erhalten oder männliche Familienangehörige zum Sprechen zu bringen;

—        Als Objekt ethnischer Säuberung oder ethnischer Disziplinierung;

—        Als Objekt einer Kriegsführung, entweder als »Kriegsbeute« oder um

den »Feind im Krieg« zu demoralisieren (völkerrechtlich endlich als

Kriegsverbrechen definiert).

Bei spezifisch gegen Frauen gerichteten Menschenrechtsverbrechen

nutzen die Regime gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen über

den Status der Frau effektiv aus. Die Frau als eigenständiges Subjekt

verschwindet hinter der gesellschaftlichen Moral- und der staatlichen

Gewaltpraxis im Nichts einer zerstörerischen Funktionalisierung. Der

Nachweis dieser Praxis, wie er auch von Menschenrechtsmechanismen

gefordert wird, ist extrem schwer. Die sichtbaren Spuren von Vergewal-

tigung vergehen rasch und das zerstörte Innere sowie das

gesellschaftliche Wertesystem der betroffenen Frauen lassen eine

»detaillierte Schilderung« des Geschehens meist nicht zu.

 

4.         In Gesellschaften, in denen die sexuelle Integrität der Frau und

die alleinige Verfügungsgewalt über ihren Körper als Kodex der Ehre

des Mannes

betrachtet wird (Konzeption von Ehre und Schande), beabsichtigen

systematische staatliche Angriffe auf die Frauen:

 

—        Selbstbeschränkung und gesellschaftliche Einschränkung der

weiblichen Mitglieder der Gesellschaft und Verhinderung ihrer aktiven

Partizipation an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen

sowie gesellschaftliche Disziplinierung (Frauen sollen in Anbetracht

der Gefahr totaler »Entwertung« durch staatliche, sexualisierte Über-

griffe, mit der ihre Aktivitäten verbunden sein können, zum Schwei-

gen gebracht werden);

—        Vermittlung eines Gefühls der Machtlosigkeit an die männlichen

Mitglieder der betroffenen Gesellschaftsgruppe, indem staatlicherseits

demonstriert wird, dass sie ihrem gesellschaftlichen Auftrag des

»Schutzes« nicht nachkommen können;

—        Unterwerfung und Assimilierung der jeweiligen Ethnie oder Nation

über den Angriff auf die weiblichen Mitglieder dieser Gemeinschaft.

Welcher Art extremer Auswirkungen diese Verbrechen auf das weitere

Leben der betroffenen Frauen haben, ist vielleicht nur ansatzweise

vorstellbar. All dies führt zur totalen Tabuisierung dieser Art staatlicher

Gewalt an Frauen.

 

5.         Während unserer Projektarbeit in der Türkei wurde

offensichtlich, dass

sexualisierte, staatliche Gewalt systematisch zum Einsatz gelangt.

Aufgrund der politischen Konfliktlinien in den letzten Jahren waren die

meisten Frauen, die sich an unser Projekt wandten, kurdischer

Herkunft.

Durch den Mut der betroffenen Frauen, ihr Schweigen zu brechen,

konnte endlich das Tabu bezüglich der Realität sexualisierter Folter in

der

Offentlichkeit der Türkei gebrochen werden. Erstmals war es in Ansätzen

auch möglich, dass türkische Feministinnen und kurdische Interessenver-

treterinnen über ihre jeweiligen, z. T. unversöhnlichen Ansichten hinweg,

zusammenkamen und gemeinsam zusammenhängende Phänomene staat-

licher Machtpolitik thematisierten. Sie schufen so eine neue Öffentlichkeit

und ein neues Bewusstsein gegen den Missbrauch sexueller Identität von

(kurdischen) Frauen durch einen militanten (türkischen) Nationalismus.

 

6.         Die Enttabuisierung systematisch eingesetzter sexualisierter Gewalt ist

ein erster, notwendiger Schritt für eine mögliche Solidarisierung und

Organisierung auf gesellschaftlicher Ebene. Hierdurch wird eventuell

ermöglicht, dass gesellschaftliche Kreise mit an sich unterschiedlichen, wenn

nicht konträren Interessen, zusammenfinden und Zusammenhänge

verschiedener Ebenen von Machtpolitik entdecken und aufdecken, wie z.B.   

in der Türkei den Zusammenhang von extremem Nationalismus, Mili-

tarismus und Verbrechen an Frauen für diese Ziele. In der Türkei können

wir zugleich feststellen, dass eine derartige interessenübergreifende Mobi-

lisierung und Organisierung zumindest dann, wenn sie auch im Ausland

Beachtung findet und thematisiert wird, als Bedrohung des staatlichen

Machtmonopols wahrgenommen wird, was im Inneren erneute

Repression zur Folge hatte. Derartige Repressionswellen gegen

organisiertes Vorgehen gegen staatliche Verbrechen an Frauen belegt

jedoch noch offensichtlicher das wahre Gesicht und den wahren Geist repressiver Staaten. So

konnte selbst das Auswärtige Amt diese Realität in seinen

Lageberichten zur Türkei nicht mehr völlig ignorieren.

 

7.         Die Weltöffentlichkeit ist leider immer nur dann bereit, bestimmte

menschen- und frauenverachtende Realitäten der Staaten zur Kenntnis zu

nehmen und zu thematisieren, wenn diese im Rahmen aktueller politischer

Machtstrategien durch agierende Staaten als Rechtfertigungsgrund eigener

Interesseninterventionen in anderen Staaten missbraucht werden. So z. B.

zur Zeit in Bezug auf den Irak. Hierdurch wird eine freie und erkennen-

de Analyse und Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen staatlich

unterschiedlicher Repressionspolitik verhindert und in bestimmte,

aktuell erwünschte Denkbahnen geleitet. Nur zwei Punkte seien hier

erwähnt:

 

a)         Die Rolle der Türkei im aktuellen Konflikt kann nicht losgelöst von

ihrem eigenen militanten Nationalismus und den daraus resultierenden

systematischen Menschenrechtsverletzungen z. B. an kurdischen

Frauen gesehen werden. Zugeständnisse an die Türkei in dieser

Hinsicht, wie z. B. Verhinderung der Rückkehr von durch das irakische

Regime zwangsumgesiedelten Kurden nach Kirkuk und Mosul,

setzen ein völlig falsches Signal und würden die Türkei in ihrem natio-

nalistischen und gewalttätigen Vorgehen gegen die eigene kurdische

Bevölkerung bestätigen und bestärken.

 

b)         Die Beteiligung von Frauen am kurdischen Kampf in

Irakisch-Kurdistan auf allen Ebenen wird auch zur Zeit völlig

totgeschwiegen. Auch

in Irakisch-Kurdistan wurden Frauen für ihre politischen und gesell-

schaftlichen Aktivitäten durch das irakische Regime mit Tod, Folter und

Vergewaltigung verfolgt. Nur in engen Kreisen ist bekannt und wird

darüber geredet, dass selbst die Mutter Mesud Barzanis durch

irakisches Militär vergewaltigt wurde. Im Gegensatz zur Türkei wurde

das Tabu,

mit welchem diese Verbrechen an kurdischen Frauen im Irak belegt ist,

in Irakisch-Kurdistan noch nicht gebrochen. Hier waren es u. a. die

Peschmerga selber, die nach dem Aufstand 1991 verhinderten, dass der

Beteiligung von Frauen am Kampf gegen das Bath-Regime nicht in dem

Maße gedacht wird, wie es ihrer würdig wäre. Und auch heute, wo sich

alle Welt anmaßt, über die »Neugestaltung« der Region

mitzudiskutieren und mitzuentscheiden, fehlt in den Diskussionen und deren

Darstellung in der Öffentlichkeit eine ganz entscheidende Stimme:

Die der kurdischen Frauen.

 

Schlussfolgerungen:

 

—        Der Bruch des Tabus »sexualisierte Gewalt als Mittel politischer

Gewalt« stellt einen ersten und notwendigen Schritt zu einer

möglichen, interesenübergreifenden Solidarisierung verschiedener

gesellschaftlicher

Gruppen, welche staatlich auf unterschiedliche Art reglementiert

werden, dar.

—        Eine interesenübergreifende, parteiideologisch unabhängige Dis-

kussion verschiedener Methoden staatlicher Reglementierung und

Repression und der dahinter verborgenen Ziele enthält die Möglich-

keit gegenseitigen Verstehens zunächst auf gesellschaftlicher Basis.

Staatlich angewandte »sexualisierte Gewalt« in Zusammenhang mit

Nationalismus und Militarismus bietet neben ihrer zerstörerischen

Auswirkung einen Ansatz, staatliche Machtpolitik zu verstehen und

unter Berücksichtigung der weiteren gesellschaftlich und politisch        

unterschiedlichen Interessen gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.

Innerhalb eines repressiven Staates bedürfen derartige Ansätze des      1

Interesses und der Unterstützung von außen.

—        Ansatz für eine »friedlichere Gesellschaft« kann die

Thematisierung

dieses Tabus erst dann sein, wenn sich die Weltöffentlichkeit nicht

mehr von aktuell opportunen staats- und mediengesteuerten Sichtwei-

sen beeinflussen lässt sondern sich eine von diesen Entwicklungen

unabhängige, permanente Sichtweise und Handlungsstrategie

aneignet.

 

Veröffentlicht in:

Aufstehen für die Menschlichkeit, Beiträge zum Kongress Kultur des Friedens 2003,

Hg.: Hort-Eberhard Richter, Frank Uhe

 

hermanns@rajus.org