veröffentlicht: RAV e.V. InfoBrief 119/2020
»Loser Sand folgt meinen Schritten…«
Zur Lage Geflüchteter im Mittelmeer
Jutta Hermanns
»Loser Sand folgt meinen Schritten« - eine Zeile aus dem Gedicht ›Migrations‹ von Wole Soyinka auf der Gedenktafel des Friedhofs von Catania/Sizilien für die vielen tausenden Menschen, die bei der Fahrt über das Mittelmeer ihr Leben verloren haben und nie identifiziert werden konnten, so dass auf ihrem Grab lediglich eine Nummer an sie erinnert.
Die Fluchtroute über das Mittelmeer nach Europa ist die tödlichste auf der Welt. Nach Angaben der UN sind allein von 2014 bis Anfang 2020 mehr als 20.000 Menschen bei dem Versuch gestorben, über das Mittelmeer sichere Gebiete in Europa zu erreichen - in der Hoffnung, für sich und ihre Familien ein Leben in Würde und Sicherheit aufbauen zu können.[1] Viele der Verstorbenen werden nie identifiziert, ihre Lebensgeschichten nie erzählt. Verzweifelte Familien weltweit bleiben in Ungewissheit zurück ohne zu erfahren, was mit ihren Liebesten geschehen ist - geflohen vor bewaffneten Konflikten, zerstörten Lebensgrundlagen, Zukunftslosigkeit, Verfolgung und Gewalt.
Welch eindringliche Metapher: „Loser Sand folgt meinen Schritten“ - der Sand der Dürre im Land der Herkunft, der Sand der Sahara, der Sand der Küsten und Strände, loser Sand unter den Füssen, die keinen Halt finden, keinen festen Grund, keine Sicherheit, kein Ankommen, loser Sand - der über die Spuren der Verstorbenen weht und sie langsam verdeckt. Ohne Spuren in der Welt zu hinterlassen würden diese vielen Menschen verschwinden, überließen wir es Europa, diese tödliche Politik ohne vereinte Gegenwehr durchzusetzen.
Covid-19 und die Verschärfung der tödlichen Rechtlosigkeit auf dem Meer
»Die Covid-19-Pandemie hat es den Staaten ermöglicht, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, die das Recht und die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas und darüber hinaus einschränken. Während einige Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen, um die Ausbreitung eines gefährlichen Virus einzudämmen, haben die europäischen Behörden diese Gesundheitskrise genutzt, um die bereits bestehende Praxis der unterlassenen Hilfeleistung auf See zu normalisieren«.[2]
So beginnt eine Presseerklärung der Notfall-Hotline für in Seenot geratenen Geflüchtete ›Watch The Med – Alarm Phone‹ vom 11. April 2020, nachdem die Aktivistinnen und Aktivisten über Tage mit verzweifelten Anrufen von in Seenot geratenen Geflüchteten konfrontiert waren und all ihre Bemühungen scheiterten, Rettungseinsätze zu aktivieren. Der griechische Premier hat die Küstenwache angewiesen, Flüchtlingsboote zu stoppen. Malta und Italien haben ihre Häfen zu ›nicht sicheren Orten‹ erklärt und für Schiffe privater Seenotrettung geschlossen. Das Bundesinnenministerium fordert einen Stopp der Seenotrettungs-Aktivitäten im Mittelmeer.[3]
»In nur einer Woche, vom 5. bis 11. April 2020, haben über 1.000 Menschen auf mehr als 20 Booten die libysche Küste verlassen. Alarm Phone wurde von 10 Boote alarmiert, von denen zwei am 6. April vom Rettungsschiff Alan Kurdi gerettet wurden, wo sie über 12 Tage ausharren mussten, bis sie am 18.04. auf ein italienisches Quarantäneschiff gebracht wurden. Über 500 andere Menschen sollen innerhalb von nur drei Tagen nach Libyen zurückgeführt worden sein«.
Zwölf Menschen haben durch europäische Untätigkeit in diesen nur wenigen Tagen ihr Leben verloren, obwohl ihre Hilferufe und Koordinaten über Tage bekannt waren. Mehrere ertranken in der Sonderverwaltungsregion Malta. Weitere starben an Durst und Hunger auf den Booten.
»Der Notfall war den europäischen Behörden seit sechs Tagen bekannt, nachdem das Boot bereits am 10. April aus der Luft von einer Frontex-Agentur gesichtet wurde (so die Pressemitteilung der Agentur vom 13. April). Seitdem waren Malta, Italien und die EU-Akteure mit Missionen im zentralen Mittelmeer über die Situation informiert, die in der Nacht vom 10. auf den 11. April auch vom Alarm Phone gemeldet wurde«.[4]
›Alarm Phone‹ dokumentiert minutengenau und detailliert die Hilfsanrufe, die Situation auf den Booten, die Koordinaten der Boote und die Aktivitäten zur Aktivierung von Rettungseinsätzen.
Nun ermittelt die maltesische Justiz gegen Premierminister Robert Abela, Armeechef
Jeffrey Curmi sowie gegen die Besatzung eines Patrouillenbootes der maltesischen Küstenwache. Einem der zu Grunde liegenden Berichte zufolge soll die Besatzung des Patrouillenbootes den Motor eines Flüchtlingsbootes funktionsuntüchtig gemacht haben. Der andere bezieht sich auf einen Vorfall mit einem anderen Flüchtlingsboot aus Libyen, das vor wenigen Tagen mit 55 Menschen an Bord vor der Küste Maltas in Seenot geraten sein soll. Mindesten fünf Migranten sollen dabei ertrunken sein, sieben weitere Insassen des Bootes gälten als vermisst. Unter bislang ungeklärten Bedingungen sei es schließlich nach Libyen zurückgekehrt.[5] Dazu ›Alarm Phone‹:
»Zu Maltas Untätigkeit und der rechtswidrigen Rückführung nach Libyen: Viele sprechen von 5 Toten, da 5 Leichen bei der Ankunft in Tripolis geborgen wurden. Tatsächlich starben 12 Menschen: 7 ertranken in der Sonderverwaltungsregion Malta. 5 weitere starben an Durst und Hunger, von denen mindestens 3 an Bord des Schiffes starben, das sie nach Libyen brachte«.
So sind die verzweifelten Menschen im zentralen Mittelmeer oft hilflos dem Tod auf See oder rechtswidriger Rückführungen in die grauenvollen Lager in Libyen ausgeliefert. Loser Sand folgt ihren Spuren und weht sie zu. Und es gibt die Beispiele, in denen sich die Menschen gegen die tödliche europäische Praxis zur Wehr setzen.
Die ›El Hiblu 3‹ – Widerstand als humanitärer Akt der Selbstverteidigung
In der Nacht vom 25. auf den 26. März 2019 verließen über 100 Menschen Libyen in einem Schlauchboot, darunter 20 Frauen und mindestens 15 Kinder, um sich in Europa in Sicherheit zu bringen. Sie wurden von dem unter türkischer Flagge fahrenden Öltanker El Hiblu 1 entdeckt und gerettet. Europäische Behörden wiesen jedoch dessen Besatzung an, die Geretteten nach Libyen zurückzubringen. Als die Menschen bemerkten, dass sie zurück nach Libyen verfrachtet werden, begannen Szenen der Verzweiflung und Panik. Sie machten deutlich, dass dies für sie den Tod bedeuten würde und versuchten die Verantwortlichen davon zu überzeugen, sie nicht nach Libyen zurückzufahren. Die verantwortlichen Besatzungsmitglieder der El Hiblu 1 beschlossen, das Schiff in Richtung Malta zu steuern. Nach von Amnesty International gesammelten Informationen führten die Geretteten zu keinem Zeitpunkt gewaltsame Aktivitäten gegen den Kapitän oder Crewmitglieder aus. Das maltesische Militär eskortierte das Schiff nach Malta, wo die Geretteten am 28. März 2019 von Bord gingen. Nach Berichten Überlebender werden weitere fünf Menschen, die zuvor in verzweifelter Angst vor einer Rückführung nach Libyen über Bord sprangen, nach wie vor vermisst.
Drei der Geretteten – zwei Minderjährige (damals 15 und 16 Jahre alt) sowie ein 19-Jähriger – wurden sofort bei der Ankunft in Malta verhaftet und anschließend für acht Monate in Untersuchungshaft überführt. Sie wurden Ende November 2019 gegen Kaution freigelassen und sind jetzt bekannt als die ›El Hiblu 3‹. Die maltesischen Behörden ermitteln gegen sie wegen diverser Straftaten, darunter der Vorwurf des »Terrorismus« und der »Piraterie«. Einige dieser Straftaten können mit bis zu lebenslanger Haftstrafe geahndet werden. Die formelle Anklage gegen die Jugendlichen ist noch nicht erhoben.
Durch den Protest an Bord verhinderten die Geretteten, zurück in die unvorstellbar grausamen Lager in Libyen gebracht zu werden. Sie handelten als Subjekte ihrer eigenen Geschichte und entrissen so der Staatsmacht die Definitionshoheit über ihr Leben oder ihren Tod, über ihr Leben in Würde oder in den Lagern der Folter, Vergewaltigung und Sklaverei. Rechtlich gesehen handelten die Beschuldigten – was immer ihnen in der künftigen Anklageschrift konkret vorgeworfen werden wird – in einem Akt der Notwehr, des rechtfertigenden Notstands.
Die Verpflichtung zur Rettung auf See sowie die Pflicht, gerettete Menschen an einen ›sicheren Ort‹ zu verbringen, sind sowohl durch das Völkergewohnheitsrecht als auch durch mehrere internationale Vereinbarungen geregelt. Unter einem ›sicheren Ort‹ ist ein Ort zu verstehen, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr bedroht ist, ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse (wie Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung) erfüllt werden können und nach überwiegender Ansicht auch ihre Menschenrechte geachtet werden. Die Notwendigkeit, die Ausschiffung in Gebieten zu vermeiden, in denen das Leben und die Freiheiten derjenigen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung haben, bedroht wären, muss als ein Rechtsprinzip des internationalen und europäischen Rechts berücksichtigt werden.[6] Menschen, welche aus Seenot gerettet wurden, müssen sowohl durch die die Rettung koordinierenden staatlichen Stellen als auch durch die die Rettung durchführenden Schiffe an einen Ort gebracht werden, welcher für sie als ›sicherer Ort‹ gilt.
Libyen ist unbestritten kein ›sicherer Ort‹ für die Ausschiffung von Flüchtlingen und Migrant*innen, die auf See gerettet werden. Die Menschenrechtsberichte der UNO und der Europäischen Union dokumentieren systematische Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen in Libyen, darunter unrechtmäßige Tötungen, willkürliche Inhaftierungen, Folter und unmenschliche Behandlung, alarmierende Raten von Unterernährung, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt einschließlich Gruppenvergewaltigung, Sklaverei, Zwangsarbeit und Erpressung.[7]
Darüber hinaus sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, die Genfer Flüchtlingskonvention – insbesondere das Prinzip des non-refoulement - und die Verpflichtungen gem. der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten: das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ist ein notstandsfestes Recht, welches unter keinen Umständen einschränkbar ist.
Denklogisch umfasst der Schutz vor Folter das Unterlassen von Anweisungen und Handlungen, durch welche die Betroffenen den Folterern erst zugeführt werden. Mittäter kann auch derjenige sein, der Menschenrechtsverletzungen durch das Verbringen von Menschen in die Herrschaftssphäre der Täter – hier Libyen – erst ermöglicht. Juristisch stell dies Beihilfe zur Folter dar. Richten sich die Verpflichtungen aus den internationalen und europäischen Abkommen direkt zunächst an staatliche Stellen, gelten diese Handlungs- bzw. Unterlassensnormen über die nationalen Rechtsordnungen auch für Private, d.h. z.B. die Besatzungsmitglieder nicht staatlicher Schiffe.[8]
In Anbetracht dieser Rechtslage haben sich die Geretteten an Bord der El Hiblu 1 gegen eine menschenrechtswidrige europäische Anweisung und der daraufhin begonnenen Rückführung an einen Ort von Tod und Folter zur Wehr gesetzt und gehandelt, um in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib und Freiheit diese Gefahr von sich und anderen abzuwenden. Es gibt somit starke Anzeichen dafür, dass ihr Handeln an Bord durch das Rechtsinstitut der Notwehr, bzw. des rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt war.
In einem ähnlichen Fall sprach das Tribunal von Trapani/Italien die Angeklagten frei, da sie von ihrem legitimen Selbstverteidigungsrecht Gebrauch gemacht hätten. Nach Ansicht des Gerichts wären die Angeklagten ohne ihre Abwehrmaßnahmen mit Sicherheit nach Libyen zurückgebracht worden. Die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit ihrer Notwehrhandlungen müsse anerkannt werden, da die Angeklagten keine andere Möglichkeit hatten, dem Schiff und seinem Ziel zu entkommen.[9]
Im Fall der ›El Hiblu 3‹ kommt das junge Alter der Beschuldigten hinzu, die versucht haben, ihr Leben und das Leben und die Unversehrtheit aller anderen Menschen an Bord zu retten.
Internationale Kampagne »Free the El Hiblu Three!«
Am 28. März 2020 startete eine internationale Solidaritätskampagne - Gerettete der El Hiblu 1 – von Seenotrettungsorganisationen, Watch The Med - Alarm Phone, Jurist*innen, Forscher*innen, Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen, um die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen die ›El Hiblu 3‹ zu fordern. Die Darlegung des bisher geschehenen, ein kleiner Film, Stellungnahmen und Aussagen Geretteter sind auf der Kampagnen-Webseite[10] zu finden.
Der RAV veröffentlichte eine Presserklärung am Tag des Kampagnenbeginns[11] und ist als Mitgliedsverein der EDA Teil einer detaillierten Stellungnahme[12], welche auf der Kampagnenseite im Kapitel ›legal‹ zu finden ist. RAV und EDA empfehlen nachdrücklich die Einrichtung einer unabhängigen Prozessbeobachtung bezüglich des Strafverfahrens gegen die ›El Hiblu 3‹ und rufen die demokratische Gesellschaft auf, den Prozess gegen diese Jugendlichen zu beobachten und sich für ihre Zukunft in Freiheit einzusetzen.
Handeln wir solidarisch und positionieren wir uns unzweideutig gegen diesen rechtsfreien Raum für Geflüchtete im Mittelmeer, so dass der lose Sand nicht die Spuren so vieler Menschen mit einem Gesicht, einer Identität und einer Geschichte in der Welt bis zur Unkenntlichkeit zu verwehen vermag.
Jutta Hermanns ist als Volljuristin Ex-Rechtsanwältin in Berlin; vormals Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.
[6] Hamburger Übereinkommen von 1979, das vorsieht, dass der Staat, der eine Rettungsaktion durchführt - auch wenn dies nicht in der SAR-Zone seiner Zuständigkeit liegt - für das Anlanden und Ausschiffen der Personen in einem sicheren Hafen (dem so genannten Sicherheitsort, POS) verantwortlich ist; zwei Zusatzprotokolle zum SOLAS-Übereinkommen (Ris. MSC. 153 (78), 20. Mai 2004) und dem SAR-Übereinkommen (Ris. MSC. 155 (78), 20. Mai 2004), die am 1. Juli 2006 in Kraft getreten sind und die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen, IMO-Entschließung MSC. 167(78), 10. Mai 2004, IMO-Dok. MSC 78/26/Add.2, Anhang 34; IMO-Dok. FAL.3/Rundschreiben 194, 22. Januar 2009; Europarat, Res. 1821(2011) über das Aufgreifen und die Rettung von Asylbewerbern, Flüchtlingen und irregulären Migranten auf See, 21. Juni 2011.