world press photo 2014
»Schenken Sie nicht denen Gehör,
die im Palast sitzen, sondern
jenen im Kerker
– bevor es zu spät ist!«
Über den Kotau der EU vor der Türkei
HAND IN HAND GEGEN FLÜCHTENDE
Jutta Hermanns
Die Türkei ist eines der wichtigsten Transitländer auf den aktuellen Fluchtrouten vieler Tausender Menschen aus den Kriegs- und Krisenländern. 2015 sollen mehr als 850.000 Geflüchtete Griechenland meist über die Türkei kommend erreicht haben. Mehr als 800 Menschen verloren auf dieser Strecke ihr Leben, die Anzahl der noch Vermissten ist unbekannt.i Geflüchtete, die es schaffen, die EU-Außengrenze zwischen der Türkei und Griechenland zu überqueren, haben (noch) einen Rechtsanspruch, in der EU einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Allein, das verfassungs- und europarechtlich nach dem Grauen des deutschen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs verankerte Recht auf Asyl und internationalen Schutz wird völlig sinnentleert, wenn nicht zugleich die legale Möglichkeit des Zugangs zur Inanspruchnahme dieses Grund- und Menschenrechts gewährt wird. Das Gegenteil ist der Fall. Die EU plant weitere Maßnahmen der Abschottung, wobei die Türkei in der Abwehr von Geflüchteten die entscheidende Rolle übernehmen soll.
Rückübernahmeabkommen mit der Türkei
Bereits am 7. Mai 2014 trat das »Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt« in Kraft.ii Mit diesem Abkommen, dessen erklärtes Ziel die intensivere gemeinsame Bekämpfung illegaler Einwanderung ist, verpflichtet sich die Türkei zur Rückübernahme sowohl eigener Staatsangehöriger als auch ›Drittstaatsangehöriger‹ oder ›Staatenloser‹, welche kein Recht haben, in der EU zu verbleiben. Voraussetzung ist, dass die Betroffenen zuvor ein Einreisevisum oder einen Aufenthaltstitel für die Türkei besaßen oder aus der Türkei kommend ›irregulär‹ in das Gebiet der EU eingereist sind.iii Letztere Verpflichtung gilt erst ab dem nächsten Jahr, ab 7. Mai 2017, es sei denn, es handelt sich um Geflüchtete aus Herkunftsländern, mit denen die Türkei selbst bereits bilaterale Rückübernahmeabkommen vereinbart hat.iv Zu diesen Ländern gehört u.a. Syrien. Verhandlungen mit weiteren wichtigen Herkunftsstaaten Geflüchteter hat die Türkei bereits aufgenommen.v
Gemeinsamer Aktionsplan
Die EU und allen voran Deutschland wollen jedoch mehr: Die Türkei soll effektiver verhindern, dass Geflüchtete überhaupt das Hoheitsgebiet der Türkei verlassen und in die EU einreisen können. Auf Vorschlag der EU-Kommission und des EU-Rats wurde am 29. November 2015 bei einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU mit der Türkei der ›Gemeinsame Aktionsplan‹ in Kraft gesetzt. Die wichtigsten Eckpunkte lauten:
(1) Die Türkei verpflichtet sich, die Aufnahmebedingungen für Geflüchtete – insbesondere aus Syrien – zu verbessern und unverzüglich eine effektivere Grenzsicherung umzusetzen, um eine Weiterwanderung von Geflüchteten aus der Türkei in die EU zu verhindern.
(2) Die EU verpflichtete sich im Gegenzug zu einer finanziellen Unterstützung von zunächst 3 Milliarden Euro und zur beschleunigten Weiterführung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel, dass die in Aussicht gestellte Visa-Liberalisierung für türkische Staatsangehörige ab Herbst 2016 umgesetzt werden kann.vi
Zudem legte die EU-Kommission am 15. Dezember 2015 eine diese Maßnahmen »flankierende Empfehlung« vor, wonach sich die EU-Mitgliedsstaaten jeweils zur Aufnahme einer bestimmten Anzahl von Geflüchteten – insbesondere syrischen – aus der Türkei aus »humanitären Gründen« verpflichten sollen.vii Es ist zu befürchten, dass die langfristigen Pläne darauf abzielen, Geflüchtete außerhalb dieser Kontingente darauf zu verweisen, in der Türkei zu verbleiben und dort um Schutz nachzusuchen und sie andernfalls in die Türkei zurückzuschicken. Dieses so genannte ›protection elsewhere‹-Konzept ist in der Richtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 (Verfahrens-Richtlinie) geregelt und dem nationalen Konzept des ›Sicheren Drittstaat‹ vergleichbar. Zu den Voraussetzungen würde neben der Übernahmebereitschaft der Türkei gehören, dass den Geflüchteten dort Schutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder »anderweitig ausreichender Schutz einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung« tatsächlich gewährt wird.viii
Einschub: Das Asyl- und Flüchtlingsrecht in der Türkei
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) unter einem geographischen Vorbehalt ratifiziert, nach welchem die Konvention nur auf Geflüchtete aus Europa Anwendung findet, wobei mit Europa alle Mitgliedsstaaten des Europarats gemeint sind.ix Am 11. April 2013 ist in der Türkei sodann das ›Ausländer- und Internationales Schutzgesetz‹ (TAuslG) in Kraft getreten. Mit diesem Gesetz wird auch eine Struktur der Gewährung von Schutz für Geflüchtete geregelt.x Geflüchteten aus nicht-europäischen Ländern kann nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen der Status eines so genannten »bedingten Flüchtlings« erteilt werden und auch der Status des »subsidiären Schutzes« hat Eingang in das Gesetz gefunden. Die Gewährung sozialer Rechte sowie ein Zugang zu Arbeit liegen vollständig im Ermessen der Behörden. Zur Umsetzung des Gesetzes ist die Schaffung einer neuen, dem Innenministerium unterstehenden Behörde vorgesehen. Im Oktober 2014 hat die Türkei zudem eine spezifische Verordnung für Geflüchtete aus Syrien erlassen, nach welcher sich diese als »vorübergehend schutzberechtigt« registrieren lassen können. Die Registrierung ist zudem Voraussetzung für einen – zumindest theoretischen – Zugang zu sozialen Leistungen.xi
Es völlig unabsehbar, inwieweit das neue Gesetz in der Praxis dazu beitragen wird, rechtmäßige Verfahren unter Beachtung der Rechte und Menschenrechte von Geflüchteten zu implementieren. Bis heute kam es nur zu einer verschwindend geringen Anzahl von Asylverfahren nach dem neuen Gesetz.xii Die faktische Situation der Geflüchteten in der Türkei lässt das Schlimmste befürchten.
Situation der Geflüchteten in der Türkei
Rund zwei Millionen Geflüchtete allein aus Syrien sollen in der Türkei leben, von denen rund 270.000 in 25 über das Land verteilten Flüchtlingslagern untergekommen sind. Alle anderen versuchen, in den über das Land verstreuten Kommunen unter widrigsten Umständen zu überleben. Weitere 230.00 Geflüchtete aus anderen Teilen der Welt wurden im Mai 2015 festgestellt.
Die Lebensbedingungen der Geflüchteten sind unerträglich: 500.000 Flüchtlingskinder haben keinen Zugang zu Schulen, Geflüchtete außerhalb der großen Flüchtlingslager, also die überwiegende Mehrheit, haben nach wie vor existenzielle Probleme beim Zugang zu Unterkunft, Gesundheitsversorgung und anderen sozialen Diensten. Eine Arbeitserlaubnis wird meist nicht erteilt oder ist nicht vorgesehen.xiii
Amnesty International berichtete zudem im Dezember 2015 von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten. Hunderte Menschen, unter ihnen Frauen und Kinder, seien festgenommen und in so genannte ›removal center‹ (Haftzentren) verbracht worden. Gründe seien ihnen nicht genannt und jeglicher Kontakt zur Außenwelt, selbst Anrufe bei AnwältInnen oder der Familie, unterbunden worden. Es sei zu Schlägen, Misshandlungen und Drohungen gekommen, sie würden auf unbegrenzte Zeit in Haft verbleiben, wenn sie nicht einwilligen, freiwillig in ihr Herkunftsland zurückzukehren. In den letzten Monaten sollen die türkischen Behörden viele Menschen in ihre Herkunftsländer – Syrien und Irak – abgeschoben und sie damit dem Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt haben. Dokumente belegen, dass die Haftzentren mit EU-Geldern ausgestattet und betrieben werden.xiv
Der Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen CERD hat in seinem Bericht zur Lage in der Türkei vom 11. Januar 2016 ausdrücklich seiner Sorge Ausdruck verliehen, dass Geflüchtete in der Türkei sowohl rassistischer Diskriminierung, inadäquaten und verheerenden Lebensbedingungen, als auch rechtswidrigen Inhaftierungen ausgesetzt sind. Insbesondere Frauen sehen sich mit der Gefahr von Menschenhandel und gewalttätigen Übergriffen in den Flüchtlingslagern konfrontiert.xv Europäische und deutsche Stellen äußerten, auf diese Berichte angesprochen, sie würden davon ausgehen, dass die Türkei ihre Zusagen wie derjenigen, das non-refoulement-Gebot zu beachten, einhalten werde.xvi
Sicherer Herkunftsstaat?
Die Türkei weiß, dass die EU zurzeit verzweifelt alles tun würde, um Geflüchtete von ihrem Territorium fernzuhalten und führt sie wie am Nasenring durch die Arena vor: Die Türkei fordert über die bisherigen Vereinbarungen hinaus die Einstufung als ›sicherer Herkunftsstaat‹. Gemäß Abs. 1 Anhang I der Verfahrens-Richtlinie 2013/32/EU kann ein Staat nur dann als ›sicherer Herkunftsstaat‹ für seine Bürger gelten,
»wenn sich anhand der dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikations-Richtlinie) noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind«.xvii
Die Einstufung als ›sicherer Herkunftsstaat‹ ist somit wie ein Gütesiegel, mit welchem bescheinigt wird, dass es sich bei dem betreffenden Land um eine ›astreine Demokratie‹ handelt. Genau dies ist das Kernziel der Türkei bei den momentanen Verhandlungen mit Deutschland und der EU: endlich eine Blankovollmacht und die Bestätigung zu erhalten, dass alle Maßnahmen der staatlichen Bekämpfung der kurdischen Bevölkerung und der als ›Vaterlandsverräter, Staatsfeinde und Terroristen‹ beschimpften Kritikerinnen und Kritiker der Regierungspolitik gerechtfertigt sind und von der EU als legitim gebilligt werden.
Situation der eigenen Bevölkerung in der Türkei
Staatspräsident Erdogan und die regierende Partei AKP hegen einen Traum von der Vormachtstellung der Türkei im Nahen Osten und einem autoritären Präsidialsystem in der Türkei. Eine entsprechende Verfassungsänderung ist seit langem geplant, kann aber nur mit der entsprechenden Mehrheit im Parlament durchgesetzt werden. Dem stehen insbesondere kurdische und andere regimekritische Kreise im Weg. Zudem befürchtet die Türkei durch die militärischen wie politischen Erfolge der kurdischen Kräfte in Süd- und Westkurdistan (Irak/Syrien) im Kampf gegen den IS eine Stärkung auch der kurdischen Bewegung und ihrer Forderungen nach Autonomie in der Türkei. Die Türkei wird daher nicht müde zu betonen, dass IS, PKK und YPG (Westkurdistan) gleichzusetzende und zu bekämpfende Terrororganisationen seien. Faktisch war die Türkei jedoch einer der wichtigsten Unterstützer des IS und konzentrierte sich vorrangig auf die Bekämpfung der kurdischen Kräfte.
Diejenigen jedoch, die diese Verbindung zwischen IS und dem türkischen Staat aufzuklären versuchen, werden verfolgt: Ermittlungen gegen einen der als Hilfsgüter getarnten Waffentransporte der regierungsnahen Stiftung IHH wurden 2013/2014 auf direkte Intervention der türkischen Regierung gestoppt. Gegen die in die Ermittlungen involvierten Polizisten und Staatsanwälte wurde Anklage wegen ›Amtsmissbrauchs‹ erhoben. Die zugleich verfügte totale Nachrichtensperre durchbrach der Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und veröffentlichte Dokumente und Fotos, die die von der Türkei immer bestrittenen Waffenlieferungen belegen. Im November 2015 wurden nunmehr Can Dündar und sein Büroleiter aus Ankara festgenommen und sitzen seitdem in Haft.xviii
Am 7. Juni 2015 fanden die für Erdogan entscheidenden Parlamentswahlen statt. Entgegen seiner Hoffnung auf eine absolute Mehrheit gewann erstmals die kurdische Partei HDP, in der bei diesen Wahlen auch viele fundamental-oppositionelle türkische Kräfte organisiert waren, mit 13,1 Prozent 80 Sitze im Parlament. Neuwahlen wurden auf den 1. November 2015 angesetzt. In dieser Zeit zwischen den zwei Wahlen vom 7. Juni und dem 1. November 2015 wurden außerhalb bewaffneter Zusammenstöße 128 Zivilisten, davon 41 Kinder, durch bewaffnete Staatssicherheitskräfte getötet und 195 Menschen, davon 51 Kinder, verletzt. Im gleichen Zeitraum wurden mehr als 5.700 überwiegend in der legalen politischen Bewegung aktive kurdische Menschen, darunter 188 Kinder, festgenommen, von denen gegen 1.004, drunter 36 Kinder, Haftbefehl erlassen wurde. Es fanden 133 Angriffe auf HDP-Büros statt und es kam zu unzähligen gewalttätigen und pogromartigen Übergriffen nationalistischer Kräfte gegen vermeintlich kurdische Menschen im öffentlichen Straßenland überall in der Türkei.xix 23 stellvertretende Bürgermeister der HDP wurden durch staatliche Akte ihres Amtes enthoben, 16 von ihnen befanden sich am 31. Dezember 2015 immer noch in Haft.xx Ende 2015 befanden sich zudem 31 Journalisten – mehr als im Jahr zuvor – in Haft.xxi
Am 20. Juli 2015 verübte ein Selbstmordattentäter einen Anschlag auf ein Kulturzentrum in Pirsus (türkisch: Suruc), wo sich zu diesem Zeitpunkt hunderte junger Menschen aus der ganzen Türkei gesammelt hatten, um beim Wiederaufbau der von kurdischen Kräften vom IS unter hohen Verlusten zurückeroberten und total zerstörten Stadt Kobane in Westkurdistan/Syrien zu helfen. Die Bombe riss 33 junge Menschen in den Tod und verletzte 100 zum Teil schwer.
Aufgrund vieler ungeklärter Umstände gehen sowohl kurdische Kreise als auch die regierungskritische Opposition davon aus, dass staatliche Kräfte in diesen Anschlag verwickelt waren.xxii Nach diesem Anschlag kam es nach langer Zeit wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der PKK. Der Staat kündigte die ›Friedensgespräche‹ mit der PKK auf.
Ein Bündnis aus HDP, kurdischen Organisationen, linken Parteien und Gewerkschaften riefen zu einer Friedensdemonstration am 10. Oktober 2015 in Ankara auf. Zehntausende sammelten sich an zwei Stellen, als gegen 10.00 Uhr Selbstmordattentäter mitten in der Menge ihre Bomben zündeten. Bei den Explosionen starben 102 Menschen, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Wenige Tage später präsentierte der Staat die Namen der Attentäter. Einer von ihnen war der Bruder des Attentäters von Pirsus/Suruc. Beide standen auf den Fahndungslisten der türkischen Sicherheitskräfte. Noch am Abend des Anschlags wurden die forensischen Untersuchungen abgeschlossen, der Platz gereinigt und für den Verkehr freigegeben. Einen Tag später geht die Polizei mit Knüppeln und Tränengas gegen Menschen vor, die am Ort des Anschlags Blumen niederlegen wollen. Bis heute sind viele Menschen in der Türkei davon überzeugt, dass auch hier der Staat seine Finger im Spiel hatte und durch die Verbreitung von Terror, Chaos und Angst die WählerInnen auf einen starken Staat einzuschwören versuchte.xxiii Die Wahlen am 1. November 2015 verhalfen Erdogan zum Sieg.
Ausgangssperren
Das militärische Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung erreichte seitdem ein unfassbares Ausmaß an enthemmter Gewalt: Verstärkt seit Dezember 2015 stehen ganze Gegenden, Städte und Stadtteile unter staatlicherseits verhängten überwiegend ununterbrochenen Ausgangssperren. Mehr als 10.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz: Armee, Gendarmerie, Polizei und Sondereinheiten. Die Gegenden der Ausgangssperren sind von Panzern und Fahrzeugen der Armee und der Sicherheitskräfte hermetisch abgeriegelt, die wahllos in die Viertel feuern. Eine neue, sich durch ihre Brutalität auszeichnende Sondereinheit mit dem Namen ›Esedullah Timleri‹ (deutsch: Löwen Allahs) rekrutiert sich überwiegend aus Personen, die dem IS nahe stehen. Die Sicherheitskräfte sollen sie als Vorhut einsetzen, wenn sie in die Städte und Stadtteile eindringen. Sie stürmen die Häuser, zerstören und töten.xxiv Scharfschützen schießen auf alles, was sich bewegt.
Der Staat kämpft hier gegen eine neue Generation von Jugendlichen, die sich in den Vierteln verschanzt und eine Selbstverwaltung ausgerufen hat sowie bewaffnet gegen das Eindringen der Sicherheitskräfte kämpft. Es handelt sich überwiegend um die Generation, die als Kinder ohnmächtig miterleben musste, wie in den 1990er Jahren ihre Dörfer niedergebrannt und ihre Familien vertrieben wurden, deren Mütter vor ihren Augen durch die Staatssicherheitskräfte geschlagen und vergewaltigt, deren Väter misshandelt und nackt, gefesselt und gedemütigt durch die Straßen geführt wurden oder einfach spurlos verschwanden.xxv
Etwa 200 Menschen, darunter viele Frauen, Kinder und Alte, sollen bisher ihr Leben an den Orten unter Ausgangssperre verloren haben.xxvi Da unabhängige Stellen keinen Zugang in die Gegenden erhalten, ist es schwer, das genaue Ausmaß der Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu erfassen. Mehr als 200.000 Menschen wohnen in diesen Gebieten und sind akut von gravierenden Engpässen bei der Strom- und Wasserversorgung sowie auch bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln betroffen.xxvii
Verletzte können nicht behandelt werden und verbluten auf den Straßen oder in den von Bombeneinschlägen getroffenen Häusern, da die Menschen ihre Häuser und die Viertel nicht verlassen dürfen und Ambulanzen von außen die Zufahrt zu den Vierteln verweigert wird. In den Straßen sollen laut Augenzeugen viele Leichen liegen, die nicht geborgen werden können. In sog. Sozialen Netzwerken kursieren Handyaufnahmen, die zeigen, wie verzweifelte Angehörige in menschenleeren Straßen mit weißen Flaggen herumirren, um ihre verletzten Kinder aus den Vierteln zu bringen oder um Tote zu bergen und dabei von staatlichen Kräften beschossen werden. Der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat mittlerweile mehre Einstweilige Anordnungen erlassen, dass Verletzten unverzüglich medizinische Versorgung zu ermöglichen sei, was aber nicht geschieht.xxviii
Und Protest?
Gegen eine Lehrerin aus Diyarbakir wurde Anfang Januar 2016 ein Ermittlungsverfahren wegen ›Propaganda für die PKK‹ eingeleitet, weil sie in einer TV-Show als Anruferin über das Leid der Zivilbevölkerung berichtet und an die Bevölkerung und Medien appelliert hatte, nicht wegzusehen.xxix Aber es bewegt sich auch Widerspruch im Westen der Türkei. Am 11. Januar 2016 wurde ein Aufruf von 1.128 Akademikerinnen und Akademikern unter dem Titel veröffentlicht: ›Wir, Akademiker und Wissenschaftler dieses Landes werden nicht Teil dieser Verbrechen sein!‹. Staatspräsident Erdogan beschimpfte die Unterzeichnenden als »dunkle Kräfte und Vaterlandsverräter« und unterstellte ihnen, die verbotene PKK zu unterstützen.xxx Daraufhin wurden an 20 Universitäten disziplinarische Ermittlungen eingeleitet, 15 Unterzeichnende wurden sofort entlassen, 39 festgenommen und in elf Städten wurden Ermittlungen u.a. wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation eingeleitet. Auf der anderen Seite stieg die Zahl der Unterzeichnenden bis zum 17. Januar 2016 auf 2.200, und etliche Berufsgruppen haben sich der Initiative angeschlossen.xxxi
Und Europa?
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker erklärte öffentlich – und Angelika Merkel schloss sich dem an – die Türkei gehöre selbstredend auf die Liste der ›sicheren Herkunftsstaaten‹. Denn wenn die Kriterien durch die Türkei hierfür nicht erfüllt wären, würde das ja bedeuten, dass die EU die Beitrittsverhandlungen zu Unrecht führe.xxxii
Der inhaftierte Journalist Can Dündar schrieb nunmehr in einem Brief an die Bundeskanzlerin: »Als Journalist, der auf Grund einer persönlichen Beschwerde Erdogans eingesperrt wurde, weil er dessen Waffenlieferungen nach Syrien aufgedeckt hat, rufe ich die deutsche Regierung auf: Schenken Sie nicht denen Gehör, die im Palast sitzen, sondern jenen im Kerker – bevor es zu spät ist«.xxxiii Dem ist nichts hinzuzufügen.
(Stand 01-2016; veröffentlicht in: Sonderbrief Rassismus und Recht, RAV e.V., April 20156)
iii Art. 4 des Abkommens.
iv Art. 24 Abs. 3 des Abkommens.
v Vgl. auch die detaillierte Darstellung in Adela Schmidt, ›Das Rückübernahmeabkommen der EU mit der Türkei‹, Asylmagazin 3/2015, S. 67ff (71).
x Dtsch. Übersetzung des ›Türkischen Ausländer- und internationalen Schutzgesetzes‹, in: ZAR 2013, S. 1ff, Art. 61ff.
xii Amnesty International: Europe’s Gatekeeper, Unlawful Detention and Deportation of Refugees from Turkey, December 2015, EUR 44/3022/2015, S. 2.
xiii Vgl. En. 11, S. 71; Amnesty International, Struggling to survive: Refugees from Syria in Turkey, 20 November 2014, EUR 44/017/2014, S. 25ff.
xiv Amnesty International, Europäische Union finanziert Haftzentren für Geflüchtete in der Türkei (15.12.2015).
xvii Art. 36 f. der Richtlinie 2013/32/EU vom 26.06.2013 (Verfahrens-Richtlinie) i.V.m. Abs. 1 von Anhang I Verfahrens-Richtlinie, s.a. Art. 16 a Abs.3 GG.
xviii Neue Züricher Zeitung, 27.11.2015, Erdogan schafft sich Aufklärer vom Hals.
xxiv Rainer Hermann, Aufstand der verlorenen kurdischen Jugend (FAZ, 18.12.2015).
xxvii Amnesty International, 11.01.2016, Hunderttausende in Gefahr, UA-006/2016
xxviii Beispielhaft: ECHR, application no. 4133/16 vom 19.01.2016, Tunc v. Turkey; Demokratisches Türkeiforum, Meldungen im Januar 2016, vgl. En. 21.
xxxi Demokratisches Türkeiforum (Januar 2016), Initiativen zur Beendigung der Gewalt, http://www.tuerkeiforum.net/Meldungen_im_Januar_2016#Initiativen_zur_Beendigung_der_Gewalt